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„Freundnachbarlich“ – Serie Teil 7

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Henry Müssemann
Henry Müssemann
Junger Mann rotes T-Shirt
Henry Müssemann machte 2017 ein Praktikum in der radiologischen Klinik in London/Sutton

Über Gastfreundschaft und Squash                                                                    Autor: Henry Müssemann

09:32 Uhr in Stuttgart. Ich sitze aktuell im ICE zurück nach Frankfurt. Gleich fahren wir mit altbekannter, deutscher, vorbildlicher Pünktlichkeit ca. 36 Minuten später als geplant los. Als sich der ICE bewegt, fühle ich mich ein bisschen zurück versetzt nach London – das Gefühl von morgentlicher Müdigkeit in einem Zug inmitten einer endlosen Großstadt, der Geruch von überteuertem, aber verdammt gutem Kaffee und die Tageszeitungen, von welcher auf jedem Platz sorgfältig ein kostenloses Exemplar zusammengelegt und für den Nächsten hinterlassen wurde. Ja, sie lesen gerne Zeitung, die Briten.

Von August bis Oktober 2017 verbrachte ich nämlich eines meiner 6 Praxissemester meines Bachelor Studiums für medizinische Informatik in London. Ein Auslandssemester, um neue Kulturen kennenzulernen, die Welt mit neuen Augen zu sehen, Toleranz zu lernen und einen weiteren Punkt der Personaler-Must-Haves eines guten Lebenslaufes abhaken zu können. Aber innerhalb der ersten zwei Wochen bemerkte ich bereits, dass London für das Erforschen neuer Kulturen vielleicht nicht die exotischste Wahl war. „Eigentlich ist alles wie daheim, nur wo anders.“, erklärte ich nach der ersten Woche meinem Kollegen aus Deutschland. Doch je länger ich Tag ein und Tag aus von meiner Host-Family zur Arbeit und zurück pendelte, desto mehr merkte ich, dass es hier alles andere als „wie daheim“ ist.

Spontane Hilfe und Gastfreundschaft waren überwältigend

Vorweg: Ich möchte nicht sagen, dass Deutsche gastunfreundlich sind. Aber wenn man Deutsche in Sachen Gastfreundlichkeit mit Engländern vergleicht, ist das wie Engländer in Sachen kulinarischer Küche mit Franzosen zu vergleichen. Alles fing an mit einer E-Mail an einen ehemaligen Assistant Teachers meines Vaters zu seinen Jugendzeiten. Phil lebt mit seiner Familie in London. Ich fragte, ihn ob er jemanden kenne, der vielleicht ein Zimmer an mich vermieten würde. Wenige Stunden danach erhielt ich eine Antwort. Eine Freundin von ihm habe ein Zimmer übrig, alles sei abgesprochen, ich könne direkt einziehen – die Nahverkehrsverbindungen vom Hauptbahnhof bis zum Haus waren bereits angehängt, der Pub um die Ecke habe ein gutes Lager Bier, dort könnten wir uns am ersten Abend gerne treffen. Am Ende wurde es dann doch ein Zimmer bei der Nachbarin der Freundin des ehemaligen Assistant Teachers meines Vaters. Aber ohne auch nur eine der involvierten Personen persönlich zu kennen, wusste ich bereits, dass mich ein herzlicher Empfang erwarten würde.

Und so war es auch.

Die Host-Family wohnte in einem typischen englischen Reihenhäuschen, mit typisch englisch verwildertem Garten in einer typischen süd-londoner Wohngegend. Ich wohnte gemeinsam mit meiner Host-Mom, einer ihrer Tochter, ihrem neuen Mann und einem kleinen süßen Hund in einem Haus. Für ein so muckeliges Haus waren das schon relativ viele Menschen, dachte ich, aber ich fühlte mich direkt wohl. Eines Dienstagmorgens nach ca. 3 Wochen saß ich in der Küche, da stürmte ein ca. 27-jähriger Mann in die Küche, packte sich ein paar scheinbar zufällig ausgewählte Gegenstände aus dem Kühlschrank, sah mich an, lächelte und sagte „Hi, you must be Henry, nice to meet you.“, und stürmte wieder zur Haustür hinaus. Auf Englisch sagt man da: What the hell!? Im Nachhinein stellte sich heraus, dass im selben Haus noch ein Untermieter wohnte, der nach seiner Arbeit wie ein Geist gerne ausschließlich in seinem Zimmer blieb. Er habe dort, so erklärte er mir später, eine Mikrowelle und somit alles was er brauche. Wir wurden gute Freunde.

London, Nähe Canary Wharf

Ich bin sehr dankbar für die Herzlichkeit, mit der ich in der ganzen Nachbarschaft aufgenommen wurde.

Ein Haus, welches in Deutschland vermutlich von einem Single-Paar bewohnt worden wäre, wurde hier also von einer dreiköpfigen Familie und einem Untermieter und noch einem Untermieter und einem Hund bewohnt. So viel zum Status-Quo, aber was macht man denn dann, wenn die zwei weiteren Kinder + Partner + Hund sich ankündigen? – Kein Problem, Platz ist ja da. Und wenn zusätzlich die ehemalige Aupair sich ankündigt, mal wieder vorbeizuschauen? – Kein Problem, Platz ist ja da. Am Ende lebten für wenige Tage in dem Haus also die Mutter, der Freund, die Tochter, der Sohn, dessen Freundin, die andere Tochter, das ehemalige Aupair Mädchen, der stille Untermieter, der Hund, noch ein Hund und ich. Ich nutzte diese Tage dann einfach, um möglichst viel von London zu sehen. Ich bin sehr dankbar für die Herzlichkeit, mit der ich von der ganzen Nachbarschaft aufgenommen und unterstützt wurde. In Sachen Gastfreundschaft macht den Engländern keiner etwas vor.

Gearbeitet habe ich in Sutton im Royal Marsden Hospital, ganz im Süden Londons. Die Abteilungen planten für die Mitarbeiter im Sommer die Mini-Olympics. In verschiedenen Disziplinen traten ausgewählte Mitarbeiter der Abteilungen gegeneinander an. Eine dieser Disziplinen war Squash. „Hey, in Deutschland habe ich ziemlich häufig Squash gespielt, ich könnte mich ja dafür eintragen.“, teilte ich meinem deutschen Kollegen aus der Abteilung mit. Er grinste mich an: „Kein Problem, ich bin hier der mit Abstand schlechteste Squash-Spieler der Abteilung, lass uns doch mal nach der Arbeit eine Runde spielen. Es gibt direkt neben dem Haupteingang eine alte Squash-Hütte.“ Zunächst verwirrt von der Tatsache, dass ein kleines Krankenhaus ein eigenes Squash-Gebäude besaß und dass der schlechteste Spieler der Abteilung sich von mir freiwillig in Grund und Boden spielen lassen wollte, stimmte ich zu.

Dieses eigenständige Gebäude am Rande des Krankenhauses mit Underground-Rap-Battle-Vibe gibt es wohl schon seit mehr als 40 Jahren. Mythen und Sagen ranken sich um das Gebäude, in dem sich Doktoranden des Krankenhauses (beinah mit Hinwerfen eines Fehdehandschuhs) zu Squash-Battles auffordern. Kurz gesagt: Mein Kollege, also der „mit Abstand schlechteste Squash-Spieler der Abteilung“, gewann vier Runden je 11 zu 0 gegen mich. Am Ende trat für unsere Abteilung ein Ü60-jähriger, ziemlich beleibter, wackeliger Mann an. Er gewann jedes einzelne Match.

Lavendelfeld im Süden Londons in der Nähe meiner Klinik – kaum zu glauben.

Jetzt suche ich die kostenlosen Zeitungen

Die Zeit in London war lustig, motivierend und außergewöhnlich. Ich habe die Londoner als herzliche und vielseitige Personengruppe kennengelernt. Die Pub-Szene ist unvergleichlich, die Gespräche mit angetrunkenen Top-Bänkern um 11 Uhr abends legendär und das alltägliche Leben, das mich an Szenen aus Harry Potter erinnert, zaubert immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Jetzt sitze ich inzwischen in Heidelberg am Bahnhof und suche die kostenlosen Tageszeitungen, den guten Kaffee und Menschen, die prompt ein „Oh, I am so sorry, darling.“ hervorbringen, wenn ich sie aus Versehen anremple. Ich merke, dass ich nicht in England bin – aber zumindest nieselt es gerade.

Friends are vital to our well-being and enrich our lives.

Weitere Erfahrungen von Briten mit Deutschen:

Steve, Lynton  https://inspiring-teatime.de/freundnachbarlich-serie-teil-1

Phil, London    https://inspiring-teatime.de/freundnachbarlich-teil-4

Nick, Lydford  https://inspiring-teatime.de/freundnachbarlich-serie-teil-5

Weitere Erfahrungen von Deutschen mit Briten:

Karin Schumann, Rodgau https://inspiring-teatime.de/freundnachbarlich-teil-2

Helmut    https://inspiring-teatime.de/freundnachbarlich-serie-teil-6

Ich empfehle auch das Taschenbuch von Christian Schulte-Loh; Zum Lachen auf die Insel. Er schildert darin seine Erfahrungen als deutscher Komiker in England, wo es galt, sich neben dem britischen Humor durchzusetzen. Ein wirklich witziges Buch, das die britischen Eigenheiten scharfsinnig auf’s Korn nimmt.

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