Bis in die 80er Jahre hätte man nie gedacht, dass dieses vernachlässigte Gebiet um den Kanal, der London von Ost nach West durchzieht, einmal zur urbanen Oase werden könnte. Während sich an der Themse die Massen an Touristen drängeln, erlebe ich hier bei einem Spaziergang am Ufer des Regent’s Kanal in dieser quirligen Stadt, am Ufer des 14 km langen Regent’s Canals himmlischen Frieden, ein ruhiges Stück Wasser mitten in der Stadt. Und doch jede Menge Überraschendes, Urbanes, Verstecktes.
Chillig, chic, charmant.
Eingestiegen in meine Walking Tour bin ich am sonnigen Montagmorgen im Osten bei Dalston am Towpath Café in der Hoffnung auf eine frühe Tasse Tee. Geöffnet war das Café, das nur seine Fensterläden aufklappt und an dessen beiden Tischen man am Kai des Regent’s Canals sitzt. Heute allerdings erfreute sich eine geschlossene Gesellschaft hier an der Weinverkostung. Es musste also auch ohne Tee gehen. Wer mich kennt, weiß, dass dies fast unmöglich ist. Die Sonne im Rücken wandere ich entlang dem schmalen Treidelpfad Richtung Innenstadt. Streckenweise bin ich allein, manchmal begegnen mir einige Gassi Geher, Jogger, Locals und ein paar Biker, die zur Arbeit oder in die Uni fahren. Ansonsten könnte man kaum vermuten, dass sich dieser unaufgeregte Ort mitten im lauten London befindet. Rechts durch Stützmauer vom trubeligen Verkehr abgeschottet, links umgeben von mittlerweile luxuriösen, hippen Lofts, kann man sich ausmalen, wie teuer es ist, hier ein Apartment zu erwerben. Und wie schön.
London’s Osten erhält ein Facelifting
Beim Limehouse Becken im Osten beginnt der Kanal, der London mit den industriellen Regionen Englands verbindet, denn London verbirgt ein beeindruckendes Kanalsystem mit einer langen Geschichte. Auf diesen von Menschenhand gebauten Wasserstraßen transportierte man bis in die 1960er Jahre Rohmaterialien wie Kohle, Holz und sogar Eisblöcke sowohl durch die Stadt als auch durchs ganze Land. Hier im Osten Londons waren einst eher Sozialwohnungen angesiedelt. Erst 1982 wurde diese Gegend als Naherholungsgebiet für die dortige Bevölkerung erschlossen und damit aufgewertet. War sie bis dahin doch reichlich heruntergekommen. Früher zogen Pferde und sogar Menschen die Schiffe an Seilen durch den Kanal, indem sie neben dem Wasserweg den sogenannten Towpath entlang gingen, denn Dampfantrieb gab es bei den Barken noch nicht.
Der Kanal endet im Westen in Little Venice, einer wunderschönen und demzufolge erlesenen Wohngegend, die ebenfalls einen Blick in die Vergangenheit preisgibt. Dazu später mehr.
Dem Stress davongleiten: Hausboote und die Kunst der Kanalentspannung
Heute ankern am Pfad dem Wasser entlang viele farbenprächtige Narrowboats, etliche davon ziemlich heruntergekommen, einige schmuck herausgeputzt mit kleinen privaten Gärten auf dem Dach. Nicht gerne lassen sich die Bootsleute hier von den Vorbeiflanierenden durch die kleinen Fenster auf Tisch und Bett schauen, so dass die meisten Gardinen zugezogen sind. (Bild mit geöffneter Tür und Gewürzbord) (Bild mit Wäscher) Erhascht man doch mal einen Blick ins Innere, fragt man sich automatisch, wie Menschen in dieser beengten Umgebung speziell im Winter wohnen können. Und in England gibt es immerhin 35.000 dieser Bootslizenzen für dauerhafte Residents, die sich hier auf den Langbooten offensichtlich wohlfühlen. In London sollen es 10.000 Menschen sein, die permanent auf solch einem Boot leben.
Einer davon ist Paul. Lies dazu gerne meinen Artikel, „Wie Paul sein Haus gegen ein Narrowboat eintauschte.“
Der Islington Tunnel: eine Fahrt durch Islingtons Licht und Dunkelheit
Als ich an den an den verträumt wirkenden angetäuten Hausbooten auf der einen Seite des schmalen Treidelpfads und den Graffitimauern auf der anderen Seite entlangwandere und so manchen Kanaltunnel durchquere, endet der Treidelpfad mit einem Male. Der Kanal ist abgetaucht wie ein Uboot und erblickt erst 878 Meter später am Ende von Islington wieder das Tageslicht.
Im wahrsten Sinn des Wortes, denn in dem langen Tunnel ist es stockfinster. Dies genießen besonders diejenigen Touristen, die sich mit einer gebuchten Kanaltour durch den finsteren Tunnel treiben lassen. Der Islington Tunnel ist wohl eines der größten Bauwerke der Wasserstraße und in seiner Richtung vollkommen gerade. Da es darin keinen Treidelpfad geben konnte, denn der Wasserweg ließ nur Raum für ein einziges Boot zu, wurde er anfangs mit menschlicher „Beinarbeit“ betrieben. Das bedeutete, dass Männer auf dem Boot auf dem Rücken liegend mit den Beinen das Boot entlang der Seitenwände weiterbewegten. Eine anstrengende und zeitaufwändige Arbeit, bis man 1826 Dampfkettenschlepper einführte, ein erster Einsatz von Dampfkraft auf den Kanälen.
Für mich bietet sich mithilfe von Google Maps die Möglichkeit, sozusagen überirdisch geradeaus und quer durch Islington den Kanal am Ende von Islington wiederzutreffen und in den Treidelpfad erneut einzusteigen.
Wie kommt Norwegens Eis unter Londons Kanal?
Das London Canal Museum, hier nur wenig abseits des Kanals, bietet eine willkommene Abweichung von der Route und veranschaulicht mir die Geschichte des Kanals. Hier erfahre ich auch, dass Carlo Gatti, ein schweizerischer Einwanderer, zwischen 1857 und 1862 zwei riesige, mit Ziegeln ausgekleidete Brunnen mit einem Durchmesser von dreißig Fuß und einer Tiefe von etwa 42 Fuß bauen ließ, um Eis zu lagern. Die Brunnen kann man unterirdisch im Museum besichtigen. Aus reinen Seen Norwegens wurden diese Eisblöcke auf diesem Kanaltransportweg nach London verschifft. Das Eis wurde in diesen Brunnen in großen Mengen gelagert. Es konnte sogar monatelang aufbewahrt werden, wobei es zwischen Norwegen und dem Kunden in London, der von diesem Gebäude aus mit Pferdefuhrwerken beliefert wurde, nur etwa ein Viertel seines Gewichts verlor. Man brauchte das Eis zur Kühlung von Lebensmitteln und auch zur Kühlung von Wunden.
East London’s Cool Upgrade: Wo Tradition einen modernen Twist findet
Ein Stückchen weiter wird es lebendiger bei meinem Spaziergang am Regent’s Kanal. Ich erreiche King’s Cross. Einst lagerten hier in riesigen Lagerhallen und auf weitem Lagergelände Kohle und andere Handelswaren. Heute begegnen wir auf dem vielfältigen, aufgepeppten Gelände Kulturellem, Historischem, Luxusgeschäften, Restaurants, Event Center und das alles auf feinstem Niveau. (Bild mit Kleiderstange) (Bild vom Kings Cross). Der wohl lebhafteste Teil des Regent’s Canals beeindruckt mich durch eine fantastische Umsetzung der historischen Lagergebäude in moderne urbane Architektur. Dies ist definitiv ein Teil Londons, den ich bei meinen zahlreichen Besuchen bisher nicht gefunden hatte, und auch nicht zum letzten Mal aufsuchen werde.
Lebenslustiges London: Granary Square – Wo entspannte Stimmung und fröhliche Momente aufeinandertreffen!“
Am Ufer des Wasserwegs am King’s Boulevard liegt der Granary Square, ein herrlicher Platz, das Herz von King’s Cross. Dieser Ort, an dem einst Lastkähne ihre Waren entluden, ist mit über 1.000 Springbrunnen belebt. Jeder einzelne von ihnen wird individuell gesteuert und nachts beleuchtet. Hier springen an dem heutigen warmen Sommertag die kleinen Kinder durch die Fontänen und genießen das kühle Nass.
Eine breite Treppe in Richtung Süden bietet hier die beste Aussicht auf die vorbeifahrenden Boote und einen Ort zum Entspannen.
Am Granary Square genießen die Menschen im Schatten unter Bäumen an Tischen ihr Picknick, arbeiten am Laptop, treffen ihre Freunde. An diesem Platz gibt es einige fantastische Lokale, in denen man hervorragend essen und trinken kann. Jedes der Restaurants und Cafés verfügt über eine großzügige Terrasse, von der aus du das Treiben beobachten kannst.
In der viktorianischen Zeit war dieser Platz ein Kanalbecken. Lastkähne luden hier ihre Waren aus, die dann zu den Häusern und Firmen Londons transportiert wurden. Diese Wassergeschichte ist in Form der vier Brunnen in die neue Gestaltung eingeflossen. Das strenge, schlichte Design und die Wiederverwertung alter Baumaterialien erinnern an die industrielle Vergangenheit des Ortes. Die Bepflanzung beließ man absichtlich spärlich, um den ursprünglichen Charakter des Güterbahnhofs widerzuspiegeln.
Segel setzen mit Wörtern: Entdecke den coolsten schwimmenden Bookshop
Nur ein paar Meter weiter erfreut mich ein Buchladen auf dem Wasser. Hier dümpelt der 100 Jahre alte Kahn „Word on the Water“ mit einer erstaunlichen Auswahl an Büchern vor sich hin. Betreten des schwimmenden Bücherladens ist hier ausdrücklich gewünscht, denn im Innern verbergen sich wahre Buchschätze und ein paar schnuckelige gemütliche Ecken zum Schmökern. Wie überall in England gehört auch hier der Haushund dazu.
Wo Urbanes auf Grün trifft
Über eine schmale Fußgängerbrücke überquere ich den Kanal und lande im Camley Street Natural Park London Wildlife, einer grünen Oase im dichtest besiedelten Teil Londons. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass ich mich hier direkt neben einer der befahrensten Eisenbahntrassen Englands aufhalte. Der Park ist ein Refugium aus Wald, Gras und Feuchtgebieten und beherbergt eine Vielfalt an Pflanzen und Tieren. 1984 war dieser grüne Spot aus einer einstigen Kohlehalde entstanden. Über die Entstehungsgeschichte kannst du hier in dem Guardian Artikel Etliches nachlesen.
Industrielles Erbe und moderne Architektur: Londons Gasometer
Nur ein paar Schritte weiter auf dem rechts und links mit Beeten bewachsenen Bagley Walk geht’s zu den Gasometern des Gasholder Parks. Als erstes gerät ein gusseisernes Gerüst in meinen Blick. Einst stand es am gegenüberliegenden Kanalufer. Es fasste 1,1 Millionen Kubikmeter Gas und gehörte zum Gasspeicher Nr. 8, dem wohl größten im Umfeld des King’s Cross. Die mächtige schmiedeeiserne Konstruktion wurde Stück für Stück demontiert, nach Yorkshire verschifft, dort sorgfältig restauriert und an ihrem neuen Standort auf dem anderen Kanalufer wieder aufgebaut. Mit einem modernen Stahldach, das den Rand umgibt, sehe ich einen gelungenen Gegensatz von Alt und Neu, das industrielle Erbe und moderne Architektur. Heute dominiert der Gasspeicher Nr. 8 mit einem beeindruckenden Vordach und ist von rundem Rasen umgeben. Im Rund des Baldachins sind 150 Spiegel in unterschiedlichen Abständen aufgehängt. Ihre spiegelnden Oberflächen und die Blicke durch die Spiegel und zwischen all dem Metall begeistern mich. Überall sitzen hier kleine Grüppchen im Gras, sprechen, lesen, picknicken. Viele sicher auch von der hier angesiedelten Kunsthochschule Central St. Martins College.
Pulsierend, eklektisch, Boheme – und dann wäre da die Ruhe Oase Primrose Hill
Ein gutes Stück Treidelpfad weiter gelange ich an die trubeligen Camden Locks mit ihren Buden, Flohmärkten, Boutiquen, Vintage Läden und Booten, mit denen man bis Little Venice fahren kann. Es ist der wohl belebteste Teil meines Fußmarsches, und ich sehe zu, dass ich mich in eine ruhigere Gegend ein wenig abseits des Kanals begebe.
Primrose Hill, eine begehrte Wohngegend, in der ich häufig gewohnt habe. Ich steige wie früher so oft die Rasenfläche des Primrose Hill hinauf, denn von hier aus hat man einen atemberaubenden Panoramablick über ganz London. Bei Sonnenuntergang ist dies ein äußerst willkommener Ort für viele Anwohner, um mit einer Flasche Wein dort oben sein Picknick zu genießen. Der Abstecher vom Treidelpfad lohnt sich auf jeden Fall.
Wandert man den Towpath am Kanal weiter, so umrundet man den Regent’s Park und geht an den Abgrenzungen des London Zoo vorbei. Der Regent’s Park ist für mich der schönste Park Londons. Absolut sehenswert zu jeder Jahreszeit sind darin die viktorianischen Avenue Gardens mit einer farblich abgestimmten Blütenpracht, wie ich sie bisher nirgendwo gesehen habe.
Pit Stop im Café Laville
Die letzte Etappe ist sicher der ruhigste Abschnitt meiner Tour, auf dem ich lange Zeit niemandem begegne. Auch wenn es eine der teuersten Wohndistrikte Londons ist, so findet man hier unter einigen Kanalbrücken auch etliche Nachtlager von Obdachlosen, die sich zum Teil wahre Wohnzimmer eingerichtet haben. Kommt man schließlich Richtung Little Venice, so rate ich dringend direkt auf dem Wege liegend, einen Stopp im Café Laville in der Edgware Road zu machen und sich hier mit einem Kaffee oder dem ersten Cocktail verwöhnen zu lassen. Das Café ist direkt über dem Kanal gebaut, und du hast einen herrlichen Blick auf die dort ankernden Narrowboats. Ich kann einem Halt dort jedenfalls nicht widerstehen.
Auf dem letzten Streckenabschnitt kommst du an Ankerplätzen von Hausbooten vorbei, die am Kai ein paar Quadratmeter Land besetzt haben und dort eine kuschelige Sitzecke, einen Platz für ihre Pflanzen oder eine Kruschelecke eingerichtet haben. Es wohnt tatsächlich jemand auf den Booten. Und das sieht man auch: Blumentöpfe und Grünpflanzen, Dreirädchen und Fahrräder, Grills und Gießkannen, aufgehängte Wäsche und Gummistiefel. Das alles findet man auf einem Bootsdach.
Lost, Found, and Loving It: Ankommen im Londoner West End
In Little Venice schließlich wohnen Menschen mit Geld, Promis wie Kate Moss, Jude Law, Kelly Osbourne und Earl Spencer, um nur einige zu nennen. Unter früheren Bewohnern kann man auch Sigmund Freud oder Alan Turing, den Code Knacker des Enigma Codes, finden. Es lebt sich gut dort zwischen all den Wasserwegen am Paddington Basin, den Narrowboats, den Trauerweiden und den altehrwürdigen Gebäuden mit den weißen Stuckfassaden, Restaurants, Pubs und Cafés.
Ich bin am Ende meiner Tour und meine Füße sind es auch. Wenn Google Maps auch 2,5 Stunden Wegzeit angibt, so wurden es bei mir 8 Stunden, denn am Towpath am Regent’s Canal gibt es so viel zu entdecken, dass es schade gewesen wäre, diesen Pfad im Eiltempo zu durchlaufen. Eine durchaus lohnende und im umtriebigen London eine erquicklich ruhige Route auf teils sehr beschaulichem Fußpfad, dem Regent’s Canal Towpath, von Ost nach West London.