Was stellst du dir unter einer Mottoparty vor, die Mumien-Auspack-Party heißt?
Lasst uns zusammenkommen, ein bisschen was essen und trinken, zur Unterhaltung ein paar Mumien auspacken?
Ja, genau das ist es auch. Makaber, aber durchaus als gesellschaftliches Unterhaltungsevent bei der viktorianischen Upper Class Englands geschätzt.
Wie kam es zu solch einem schaudervollen Zeitvertreib?
Während des 18. und 19. Jahrhunderts waren Europäer von Ägypten, dem Jenseits und Mumien fasziniert. Dieser Besessenheit gab man sogar einen Namen, Ägyptomanie. Wie mit jedem Hype, so machten sich auch damalige Händler diese Schwärmerei zunutze und schmuggelten jede Menge Mumien nach Europa. Teils weil man sich von zermahlenen Mumien eine wundersame Heilwirkung versprach oder für das bei Künstlern bekannte Mumienbraun. Die napoleonischen Kriege und Englands koloniale Ausdehnung hatten maßgeblich zum neu erwachten Interesse an Ägypten beigetragen. So sehr, dass der französische Aristokrat und Mönch Ferdinand de Géramb an Pascha Mohammed Ali schrieb, dass es:“…kaum anständig wäre, sich bei seiner Rückkehr aus Ägypten, ohne eine Mumie in der einen und ein Krokodil in der anderen Hand zu präsentieren.“ Auch damals fielen der Tourismusindustrie einige Marketingaktionen ein. So platzierte man die Mumien sogar aus weniger besuchten Landesteilen in beliebten Ruinen, um den Erwartungen ausländischer Besucher Genüge zu tun.
Mumien Auspacken als wissenschaftliches Spektakel
Das Auspacken oder Auswickeln von Mumien zu wissenschaftlichen Zwecken gab es schon längst. Doch erst durch den britischen Arzt Thomas Joseph Pettigrew (1791-1865) wurde es so richtig als Event bekannt. Dieser Freund von Charles Dickens wusste sehr wohl, wie man vermeintlich wissenschaftliche Theorien in ein faszinierendes Spektakel verwandelte. Wer also seinerzeit am Vorabend des 15. Januar 1834 eine Eintrittskarte für die sogleich ausverkaufte Veranstaltung von ihm ergattern konnte, war einer der glücklichen Londoner, die an jenem Abend im Royal College of Surgeons einer seltsamen Sensation beiwohnen konnte. Denn vor seinen Augen wickelte Pettigrew eine echte ägyptische Mumie aus der 21. Dynastie (bis 943 v. Chr.) aus. Offiziell natürlich für die Wissenschaft.
Man mische ein bisschen Ägypten, Wissenschaft und Makabres
Der Unterhaltungscocktail war gelungen und unwiderstehlich: Man mische ein bisschen Ägypten, Wissenschaft mit Etwas Makabrem. Dieselben Leute, die es für vulgär hielten, dass Damen in gemischter Gesellschaft ihre Handschuhe auszogen, sahen ohne zu Zucken zu, wie ein Leichnam seiner Hüllen entledigt wurde.
Nach einer Zeit gerieten die Mumien Auswickelpartys in Ungnade. Zum einen, weil die Wissenschaft ein ernsthaftes Interesse an den Mumien entwickelte, zum anderen aber auch, weil immer mehr Menschen sich dessen bewusstwurden, dass es sich hierbei um menschliche Überreste handelte, die mit Respekt behandelt werden sollten
Der Mumienhandel florierte
Viele Engländer, Franzosen, Deutsche, Spanier ahnten die großen Gewinne, die mit dem Handel von Mumien zu erzielen waren und gründeten Sammel- und Vertriebsunternehmen. So exportierte man in größeren Stückzahlen ganze Körper oder fragmentiertes Gewebe aus Kairo und Alexandria. Thomas Pettigrew schreibt: „Kaum wurde erkannt, dass die Mumie einen wertvollen Artikel für die Medizin darstellt, stiegen viele Spekulanten in den Handel ein; die Gräber wurden geplündert und so viele Mumien, wie man bekommen konnte, wurden für den Verkauf in Stücke gebrochen…“. Einer dieser Händler war John Sanderson, ein Kaufmann, der seinen Besuch in den Mumiengruben von Memphis schilderte: “Wir wurden an Seilen heruntergelassen…und gingen so über Leichen aller Arten und Größen…sie gaben überhaupt keinen üblen Geruch ab…ich brach alle Teile der Körper ab, um zu sehen, wie das Fleisch in Drogen verwandelt wurde, und brachte verschiedene Köpfe, Hände, Arme und Füße nach Hause, um sie zu zeigen…“ Und wo Handel ist, blüht auch der Betrug. So konnte es sich bei gefälschten Mumienteilen auch einmal um Kamelfleisch handeln.
Mumien als Attraktion
Neben ihrem vermeintlich medizinischen Nutzen wurden die importierten Mumien zu einer Attraktion an sich. Der berühmte Samuel Pepys erzählte 1668, dass er nach einer durchzechten Nacht in die Londoner Hafenanlagen ging, um eine Mumie zu sehen, bevor sie zermahlen wurde. Mumienreste wie Arme Füße gehörten damals im Übrigen üblicherweise in das Kuriositätenkabinett eines echten Gentlemans.
Exportschlager Mumienbraun
Auch die aus den Mumien gewonnene dunkle Farbe war ein gelungenes Exportmodell. Das Farbpigment Mumienbraun wurde bei Künstlern im 16. Jahrhundert äußerst begehrt. Für die satte braune Farbe zermahlte man in Europa die aus Ägypten stammenden Mumien von Menschen wie auch von Katzen. Die Farbe lieferte die nötige Transparenz für Schatten, Lasuren oder Fleischtöne und wurden zu den Lieblingsfarben der Präraffaeliten.
Mumienpulver als ägyptisches Alleilmittel
Die Faszination für „mumia“, ägyptische „Medizin“ aus gemahlenen Mumien, also Mumienpulver, führte ebenfalls dazu, dass Mumien in großer Anzahl aus Ägypten abtransportiert wurden. Die Begeisterung für ägyptische „Heilmittel“ im Allgemeinen findet man noch heute in sogenannten magischen Gesichtscremes, die alte ägyptische Motive für ihr Marketing verwenden. Mumia Vera, Mumy Powder Antique, ist nur ein Beispiel dafür. Der englische König Karl II. nahm nach einem Krampfanfall Medikamente aus menschlichen Schädeln ein, und bis 1909 verwendeten Ärzte menschliche Schädel üblicherweise zur Behandlung neurologischer Erkrankungen. Für die königliche und gesellschaftliche Elite schien der Verzehr von Mumien eine königlich angemessene Medizin zu sein, da die Ärzte behaupteten, Mumien würden aus Pharaonen hergestellt.
Man glaubte Mumienpulver wäre geeignet als Blutverdünner, Schmerzmittel, Hustenmittel, Menstruationshilfsmittel, Mittel für die Wundheilung und sagte ihm entzündungshemmende Wirkung nach.
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