In dieser Episodenfolge, die als ein Teil meiner Serie „Freundnachbarlich- Erfahrungen von Deutschen mit Briten und umgekehrt“ erscheint, beschreibt Till Schulze immer neue Episoden von seiner Zeit, als er 1977 durch England getrampt ist und zeichnet durch seine vielfältigen Kontakte ein variantenreiches Bild von den Briten.
Episode 7: Ein zu großer Rasenmäher und eine Kommune am Ende der Welt.
Die 859 führte bis zum südlichsten Punkt von Harris, dem kleinen Ort Rodel (gälisch Roghadal). So weit wollte ich allerdings nicht. Mein Ziel war Tarbert (gälisch Tairbeart). Von dort konnte man mit der Fähre auf die Isle of Skye übersetzen. Ich bekam eine Mitfahrgelegenheit bei einem lockigen Naturburschen mit Karohemd und Latzhose. Sein alter Austin Kombi, der hintere Teil hatte noch eine typische Holzverkleidung, schien schon bessere Tage gesehen zu haben. Die Hecktüren standen weit offen, sonst hätte der überdimensionierte, alte Rasenmäher nicht hineingepasst. Ich fragte, was er damit in dieser Gegend vorhätte. Doch die Frage blieb bis zum Schluss unbeantwortet. Während wir uns im zweiten und dritten Gang ganz ordentlich voran bewegten, erzählte er mir von einer der vielen vorgelagerten Inseln. Dort hatte er mit ein paar Gleichgesinnten vor einiger Zeit eine Landkommune nach makrobiotischen Grundsätzen gegründet. Mir war der Begriff nicht fremd, in Deutschland ging es gerade richtig los mit New Age und Alternativkultur.
Dann erzählte er mir noch eine Geschichte über Vashti Bunyan, die englische Folksängerin. Sie hatte sich eine Zeit lang auf den Äußeren Hebriden auf einen Bauernhof zurückgezogen, nachdem sie in England zur Nachfolgerin der in den Drogensumpf abgerutschten Marianne Faithfull aufgebaut werden sollte. Nach ihrer Rückkehr nahm sie das Album ‚Just another diamond day‘ auf, ein verspieltes, folkiges, aber erfolgloses Debut. Mir sagte der Name ehrlich gesagt damals nichts, erst später tauchten immer mal wieder, zu Recht, hymnische Verweise auf.
Während Orte mit so skurrilen Namen wie Lacasaigh, Arivruaich, Ardvourlie und Maraig an uns vorüberzogen, plauderten wir weiter über Gott und die Welt. An einem kleinen Abzweig mitten im Nichts hielt er an. Er fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, auf SEINE Insel mitzukommen. Für das letzte Stück müsse man ein kleines Boot nehmen, das nur alle paar Tage fahre. Das war ein wunderbares Angebot, ich lehnte aber ab. Ich wollte meine meditative Reise noch ein wenig allein fortsetzen.
Episode 8: Abschied von Schottland, Schmelztiegel London.
Ich hatte nun die letzte Station in Schottland erreicht, die Isle of Skye. In Tarbert auf den Äußeren Hebriden bestieg ich die Fähre und landete ein paar Stunden später auf der Insel im Fischerörtchen Uig. Bei der Einfahrt in die Bucht sah man im Hintergrund eine beeindruckende Felsformation, die sich zu einer Landzunge verjüngte und steil ins Meer abfiel. Der Bewuchs wirkte wie ein zarter Grasteppich. Ich ließ mich in Portree absetzen, dem größten Marktflecken der Insel. Hier streifte ich ein wenig die Hauptstraße entlang und füllte meine Vorräte auf. Ich saß gerade auf einem Steinmäuerchen mit Blick auf die liebliche Landschaft und das stille Wasser, als ich jemand nach mir rufen hörte. Peter? Ja, er war es. Er wedelte mit einem Prospekt aus dem Seitenfenster seines Wagens und schien sehr erfreut, mich wiederzusehen. Peter war ein Musiker aus London, der mit seinen beiden Kindern in Schottland Urlaub machte. Er hatte mich bereits an der Nordküste Schottlands mitgenommen, nach meinem Abstecher auf die Orkney Inseln. Er zeigte mir dort u.a. die versteckt liegenden Sandstrände von Coldbackie und Oldshoremore. Nun wollten sie zurück nach London auf direktem Weg. Da hatten sie ja noch was vor sich, immerhin knapp 1000 Kilometer. Ob ich wieder ein Stück mitkommen wolle, fragte er mich. Da ich auch langsam an die Heimfahrt dachte, willigte ich ein. Aber auf keinen Fall nach London.
Dass es dann doch ganz anders kam, hatte ich Peters Überzeugungsarbeit zu verdanken. Er lebte gerade in Scheidung, hatte sich eine eigene Wohnung im Londoner Stadtteil Wandsworth gemietet, wo er mir anbot zu wohnen. Hörte sich verlockend an, mal sehen. Wir fuhren die Strecke mehr oder weniger in einem Rutsch Tag und Nacht durch. Erst lange auf Landstraßen, dann auf diversen Autobahnen. Dort ließ er mich auch längere Zeit fahren, obwohl ich den Linksverkehr gar nicht kannte. Aber auf dem Motorway ging es ja, abgesehen von den Roundabouts immer gerade aus, so dass ich damit zurechtkam. Währenddessen schienen Peter und seine zwei Kinder in einen Tiefschlaf abgetaucht zu sein.
Als ich nach längerer Fahrt wieder von Peter abgelöst wurde, hatte ich mich bereits für London entschieden und war gespannt, was mich dort erwartete.
Am späten Abend kamen wir in London an, und er brachte mich auch gleich in seine neue Wohnung. Leer bis auf Teppichboden und Einbauküche. War für mich o.k., ich hatte ja Schlafsack und Isomatte dabei. Er verabschiedete sich, und wir verabredeten uns für den morgigen Sonntag. Er wollte mich zu einem Frühschoppen im nahegelegenen Stadtteilzentrum mitnehmen, wo er mit seiner Dixielandband auftreten sollte. Dixieland war ja so gar nicht meins, aber mal sehen…
Bevor Peter am nächsten Morgen vorbeikam, ging ich ein paar Schritte vor die Tür. Die Wohnung befand sich in einem typischen Backsteinhaus mit kleinen Erkern und lag in einer ruhigen Seitenstraße. Um die Ecke direkt die Underground Station ‚East Putney‘. Ein unaufgeregter Stadtteil mit viel Durchgangsverkehr.
So gegen Mittag ging es dann zum Frühschoppen in eine Art Gemeindezentrum. Schon am Eingang kamen mir Schwaden von Tabakgeruch entgegen, und im eigentlichen Saal stand eine große Anzahl mittelalter, Pfeife und Zigaretten qualmender Herren, die wild durcheinanderredeten und auf irgendetwas zu warten schienen. Vorne war ein Podest, auf dem sich langsam eine Dixieland Band aufbaute. Peter holte seine Posaune aus dem Koffer und stellte sich dazu. Und schon ging es los. Nachdem die Menge in Stimmung gebracht worden war, floss reichlich Bier, und es wurde sehr ausgelassen. Ich flüchtete nach zwei Stunden aus dem Dampfkessel und schnappte draußen frische Luft.
Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Veranstaltungszeitung und schaute nach Konzerten. Die Auswahl war gigantisch. Obwohl ich mit meinen langen Haaren da nicht wirklich hinpasste, entschied ich mich für ein Punk Konzert der lokal angesagten Band ‚Alberto Y Lost Trio Paranoias‚. Ein verrückter Bandname in einer verrückten Stadt! Das Konzert fand am nächsten Tag im bekannten ‚Roundhouse‚ statt, einem ehemaligen Lokschuppen im Stadtteil Camden. Die Band erwies sich als clowneske Trash Band, die mühelos berühmte Vorbilder wie die ‚Sex Pistols‘, ‚The Damned‚ oder die ‚Ramones‚ parodierten. Mit ihren geschminkten Gesichtern, ihrem rotzigen Auftreten und ihren frechen Texten empfahlen sie sich gnadenlos als Nestbeschmutzer des englischen Establishments. Nun hatte ich also einen soliden Vorgeschmack bekommen, wohin die musikalische Reise die nächsten Jahre gehen würde. Bei mir würden die Haare zwar auch kürzer werden, aber zum Irokesenschnitt kam es nicht…
Nachdem ich mich am nächsten Tag von Peter und seiner Familie dankend verabschiedet hatte, bestieg ich die U-Bahn und dann einen Vorortzug, um an der Peripherie Londons einen ‚Lift‘ Richtung Dover zu bekommen. Was dann auch klappte. Ein freundlicher Belgier nahm mich mit, und ich konnte mit ihm auch über den Ärmelkanal übersetzen. Das europäische Festland hatte mich wieder und meine Reise ging zu Ende.
Tipp: Siehe hierzu auch Tills Bericht Roadtrip durch Großbritannien 5 + 6 – Äußere Hebriden