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Das Ragged School Museum in London

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Alte Schulbänke im Ragged School Museum Schultafel Klassenzimmer

Bildung für die Vergessenen – und ein Fenster in eine andere Welt

East End im 19. Jahrhundert: das Elend hinter der glänzenden Fassade

Im viktorianischen London, rund um 1870, entfaltete die Hauptstadt des Empire nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern driftete auch in sozialer Hinsicht dramatisch auseinander. Besonders gravierend war es im East End, einem Bezirk, der zum Synonym für Elend, Überbevölkerung und Krankheit wurde.

London East End arme Kinder
Bild: Kinder im Londoner East End in viktorianischer Zeit, Bildquelle: Ragged School Museum

Die Straßen waren eng, die Wohnverhältnisse katastrophal: Familien lebten zu zehnt oder mehr in einem einzigen feuchten Zimmer. Viele Häuser hatten weder Wasserleitungen noch funktionierende Abflüsse. Toiletten? Mangelware. Ganze Stadtteile wurden buchstäblich zum Nährboden für Krankheiten wie Cholera, Typhus und Tuberkulose.

Kinderschicksale des Elends bestimmten das Straßenbild. Unterernährte, barfüßige Jungen und Mädchen bettelten, verkauften Streichhölzer oder Zeitungsschnipsel – um wenigstens ein Stück Brot zu ergattern. Viele waren Vollwaisen oder Halbwaisen, ihre Eltern gestorben an Seuchen oder durch Arbeitsunfälle in den Fabriken und Docks. Wer als Kind nicht arbeitete, trug zur Not der Familie bei – mit dem Preis der völligen Chancenlosigkeit.

Ragged Schools – Bildung für die Kinder am Rand der Gesellschaft

Die gesellschaftlichen Missstände konnten selbst die Mittelschicht nicht mehr ignorieren. Es entstand eine Bewegung, um den „zu zerlumpten, zu schmutzigen, zu verwahrlosten“ (Brief von Charles Dickens an die The Daily News 4. Februar 1846) Kindern Londons zu helfen: die Ragged Schools.

Der Begriff „ragged“ (engl. für zerlumpt) beschreibt nicht nur das Aussehen, sondern das gesamte soziale Profil dieser Kinder: ärmste Herkunft, keine Schulbildung, keine Perspektive. Eine dieser Schulen wurde zur bedeutendsten ihrer Zeit:

Die von Dr. Thomas Barnardo 1877 gegründete Ragged School in Copperfield Road (benannt nach Charles Dickens‘ David Copperfield) im East End von London.

Alte Schiefertafel und Sackkarren und Pult im Ragged School Museum London East End
Tafel im Klassenzimmer in dem Ragged School Museum London,Bild: © Sieglinde Fiala

Thomas Barnardo: Arzt, Pädagoge, Visionär

Barnardo, ein irischer Medizinstudent, kam eigentlich nach London, um Arzt zu werden – doch was er im East End sah, veränderte sein Leben. Statt in gutbürgerlichen Kreisen als Mediziner zu arbeiten, widmete er sein Leben den ärmsten Kindern der Stadt.

1877 eröffnete er seine erste große Ragged School in einem alten Lagerhaus am Regent’s Canal. In ihrer Blütezeit unterrichtete sie täglich bis zu 600 Kinder.

Der Lehrplan umfasste Lesen, Schreiben, Rechnen – aber auch Bibelstudien und moralische Erziehung. Ziel war nicht nur Wissen, sondern die Vermittlung von Werten wie Anstand, Ehrlichkeit und Arbeitsamkeit – für eine Gesellschaft, die diesen Kindern sonst nichts zutraute.

Klassenzimmer im Ragged School Museum alte Schreibpulte Tafel
Klassenzimmer im Ragged School Museum, Bild: © Sieglinde Fiala

Schule, Suppe, Seife: Versorgung in der Ragged School

Die Ragged School war viel mehr als nur Unterrichtsraum. Für viele Kinder war sie der einzige Ort, an dem sie regelmäßig etwas Warmes zu essen bekamen – und das verbesserte sich im Laufe der Jahre:

1878 gab es noch ein warmes Frühstück pro Woche, meist Kakao und Brot. 1885 gab es bereits drei warme Mahlzeiten pro Woche – in der Regel Erbsensuppe mit Brot

Gebrauchte Kleidung wurde ebenfalls bereitgestellt, soweit Spenden es zuließen. Viele Kinder kamen barfuß und ohne Mantel und wurden mit einfachen Schuhen, Strümpfen oder Secondhand-Jacken versorgt.

Hygiene war ein zentraler Bestandteil des Konzepts. Kinder wurden gewaschen, eingewiesen in grundlegende Sauberkeit, und mancher lernte dort zum ersten Mal überhaupt, was Zahnbürsten oder Seife sind.

Treppenhaus Stahlträger Holzboden im
Treppenhaus im Ragged School Museum, Bild: © Sieglinde Fiala

Nach der Schule: Hilfe beim Einstieg ins Leben

Doch das Engagement der Schule endete nicht mit dem Stundenplan. Die Lehrer – oft Freiwillige oder ehemalige Schüler – unterstützten die Kinder bei der Suche nach Lehrstellen oder Arbeit.

Wer besonders engagiert war, konnte Empfehlungen erhalten, um als Lehrling in Handwerksbetrieben, Druckereien, Schuhmachereien oder sogar in Haushalten unterzukommen. Einige Kinder wurden über Stiftungen nach Kanada oder Australien geschickt – in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Die Ragged Schools waren ein Ort der Zuflucht, Wärme und oft der Rettung.

Was wurde aus den Kindern? – Schicksale mit Namen

Einige der ehemaligen Schüler schafften es tatsächlich zu Ansehen.

John Somers, zum Beispiel, der als verwaister Junge durch die Straßen von Limehouse streifte, lernte in der Ragged School Lesen und Schreiben. Mit 16 begann er eine Ausbildung zum Buchdrucker – eine rare Chance. Er wanderte später nach Neuseeland aus und wurde dort Lehrer.

Ein anderes Beispiel: Emily Prior, eine Halbwaise, deren Vater bei einem Dacheinsturz ums Leben kam. In der Schule lernte sie Nähen und Rechnen – später eröffnete sie eine kleine Wäscherei und stellte selbst ehemalige Ragged School-Kinder ein.

Bilder von Kindern aus viktorianischer Zeit
Ehemalige Schüler des Ragged School Museums, Bildquelle Ragged School Museum, Bild: © Sieglinde Fiala

Dr. Barnardos Erbe: 96 Heime, 8.500 Kinder

Was mit einer Schule begann, wurde eine Bewegung: Dr. Barnardo gründete bis zu seinem Tod 1905 insgesamt 96 Kinderheime, in denen über 8.500 Kinder versorgt, ausgebildet und betreut wurden. Sein Name wurde in England zum Synonym für soziale Verantwortung.

Bis heute besteht die von ihm gegründete Organisation „Barnardo’s“ – heute eine der größten Wohltätigkeitsorganisationen für Kinder in Großbritannien.

Wie sieht das Ragged School Museum heute aus?

Gebäude altes Lagerhaus Ragged SChool Museum

Heute ist das Gebäude in der Copperfield Road ein beeindruckendes Museum, das den Geist dieser Zeit bewahrt. Die originalen Klassenzimmer mit Schiefertafeln, harten Holzbänken und viktorianischem Lehrerpult lassen Besucher direkt eintauchen in das Jahr 1880.

Neben den Unterrichtsräumen gibt es auch eine Küche und Ausstellungen, die das Leben im East End dokumentieren. Besonders eindrucksvoll: Briefe ehemaliger Schüler, Fotos und Fallgeschichten.

Das Museum arbeitet eng mit Schulen und sozialen Einrichtungen zusammen – als Lernort für Geschichte, soziale Gerechtigkeit und Mitgefühl.

Praktische Informationen für deinen Besuch

  • 📍 Adresse: 46–50 Copperfield Road, London E3 4RR
  • 🕒 Öffnungszeiten: mittwochs & donnerstags sowie jeder erste Sonntag im Monat
  • 💷 Eintritt: £5 (Kinder und Schulgruppen reduziert oder kostenlos)
  • 🌐 Website: www.raggedschoolmuseum.org.uk

Fazit: Ein Ort, der Hoffnung schrieb

Das Ragged School Museum ist kein Ort nostalgischer Romantik – sondern ein Mahnmal gegen soziale Gleichgültigkeit.

Es erinnert uns daran, dass Bildung nicht nur Wissen, sondern Würde schenkt. Dass eine warme Mahlzeit und ein bisschen Fürsorge Leben verändern können.

Und dass man mit Mut, Vision – und einem alten Lagerhaus – die Welt für Tausende Kinder verbessern kann.

Tipp: Auch ohne Museumsbesuch lohnt sich der Abstecher ins Café im Untergeschoss– allein für die Atmosphäre und den Blick auf den Regent’s Canal.

Kaffeepause mit Kanalblick – das versteckte Café im Ragged School Museum

Café im Ragged School Museum Theke, Kuchen, Deckenbalken
Café im Untergeschoss des Ragged School Museum,Bild: © Sieglinde Fiala

Wer nach dem Rundgang durchs Museum eine kleine Auszeit braucht, sollte unbedingt einen Abstecher in das Café im Basement, Ragged School Café,  machen – ein echter Geheimtipp, selbst unter Londonern.

Mit viel Liebe zum Detail eingerichtet, versprüht das kleine Café historischen Charme und ist zugleich ein Ort zum Durchatmen. Alte Backsteinwände, warmes Licht, der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und selbstgebackenem Kuchen – ein bisschen wie Wohnzimmer und Zeitmaschine zugleich.

Der eigentliche Zauber aber wartet hinter dem Gebäude:
Einige der Tische des Cafés stehen direkt am Regent’s Canal – mit Blick aufs ruhige Wasser, umgeben von alten Lagerhäusern, Lofts und vorbeiziehenden Schwänen.

Gerade unter Einheimischen ist dieser Ort beliebt: Viele aus der Nachbarschaft, die im Homeoffice arbeiten, schnappen sich hier einen Flat White, klappen den Laptop auf – und arbeiten mit Blick aufs Wasser.

Es ist einer dieser raren Orte in London, wo man die Stadt vergessen kann – mitten in ihr.

Lies hierzu gerne auch meinen Artikel „Spaziergang am Ufer des Regent’s Canals“